Donnerstag, 13. März 2014
Verreist und völlig ineffektiv
Nach der Eisaktion fand ich es auch absurd weiter zu schlafen. Ich beschloss die Videothek zu begutachten, in der Hoffnung mich mit einem japanischen Film etwas einstimmen zu können. Wenn Mitternachtseis zu irgendetwas passt, dann zu nem guten Film. Den Film über Rikyu den Teemeister übersprang ich zugunsten einer leichten Liebesgeschichte (Hidamari no Kanojo / Girl In The Sunny Place, 2013). Der Film war sehr schön. Vom Japanischen verstand ich kein Wort und bei einer Szene im Büro, die eine mir nicht so angenehme Seite Japans zeigte, überfiel mich ein etwas mulmiges Gefühl... Worauf hab ich mich da eigentlich eingelassen? Ich liess auch diesen Gedanken ziehen und erfreute mich wieder an den großen, dunklen Augen japanischer Kinder... wird schon. Ohne nachzudenken öffnete ich plötzlich die Jalousie meines Gucklochs: die Morgendämmerung hat bereits eingesetzt. Den Sonnenaufgang konnte ich von meinem Fenster zwar nicht sehen, aber dafür konnte ich unter mir eine weite, weisse Landschaft ausmachen. Wo sind wir eigentlich? Ich überlegte kurz, ob mir das Ende des Films wichtiger war, als meine Orientierung und zappte dann schnell zur Fluginfo durch: Sibirien! Wir flogen gerade über Sibirien!
Kein Wunder, dass da keine Städte sind. Fasziniert verfolgte ich die vereisten, sich gemütlich Windung um Windung durchs Land schlängelnden und endlos fein sich verzweigenden Flussläufe, als hätte es das Wasser nicht eilig, zum Meer zu kommen. Ich dachte an meine Arbeit, an die Stoffwechselflüsse in Zellen, die ich versuchte vorherzusagen. Den schnellsten Weg, den effizientesten Weg, den kürzesten Weg kann ich berechnen.. nicht aber den ineffizienten Weg, den das Leben vermutlich jeden Augenblick einschlägt. Und ich dachte an mein stetes Bemühen, den „richtigen“ Weg zu finden... und dann hörte ich auf zu denken und machte ein paar Fotos dieser gemütlichen Landschaft. Ist das die Transsibirische Eisenbahn oder eine Autobahn, die sich den Weg durch die Wildnis bahnt?

Sibirien im Winter

Sibirien im Winter

Sibirien in der Morgendämmerung



Zeitverschiiiiiiiiebung
Ich habe geschlafen, zumindest bilde ich mir das ein. Zusammengerollt auf meinen beiden Sitzen genoß ich das Privileg der Horizontalen. Draußen war es Nacht. Autosuggestiv hatte ich versucht mir die Uhrzeit, die gerade in Japan ist, vor Augen zu halten und dabei versucht zu ignorieren, dass mir dabei 8 Stunden meines Tages verloren gehen. Ich versuchte mir das bisher Erlebte so detailliert wie möglich in Erinnerung zu rufen...Picknick, Abflug, Aufenthalt in Zürich... in der Hoffnung die fehlenden 8 Stunden damit zu füllen. In letzter Zeit hatte ich einige Tage erlebt, die genug Material für zusätzliche 12 Stunden boten, es müsste doch aus andersherum gehen. Ich redete mir ein, wie müde ich sei... Zugegeben es funktionierte nur bedingt gut. Ich fiel wohl eher überwältigt von den Anstrengungen in den Schlaf, als dass ich wirklich glaubte, es ist 22:00Uhr und Zeit zu schlafen. Aber immerhin, ich habe etwas geschlafen. Als ich aufwachte sah ich die Stewardessen ruhig von Reihe zu Reihe laufen. Ich war ganz am Ende des Flugzeugs, hatte also genügend Zeit mit verschlafenem Blick zu rätseln, was sie wohl verabreichten so mitten in der Nacht. Auf der Bord-Speisekarte waren nur zwei Mahlzeiten verzeichnet: Mittagessen und Frühstück. Das mit dem Abendessen wurde vermutlich wegen besagter 8 Stunden übersprungen. Ich hatte keine Ahnung wie spät es ist. Auf irgendeinem Langstreckenflug hatte ich morgens mal warme feuchte Tücher bekommen. Das war eine feine Sache und würde den Japanern sicherlich gut gefallen. Ich beobachtete die Schweizer Begleiterin, wie sie kleine Plastik-Schächtelchen öffnete und austeilte. Dampfen taten die zwar nicht, aber das mit den feuchten Tüchern war die einzig sinnvolle Aktion, die ich mir zu dieser Nacht und vielleicht ja Morgenzeit irgendwie hätte vorstellen können. Ich wartete gespannt ab.
Als die Reihe vor mir dran war, konnte ich zumindest die Aufschrift auf der Packung lesen: Möwenpick... Ich war verwirrt. Eis? Eis zu dieser Tages- äh Nachtzeit? Eis? Dafür riskierten sie es, die mühevoll endlich vom Schlaf übermannten Menschen aufzuwecken? Für Möwenpick-Eis? Welcher Ernährungsempfehlung folgt das denn? Ich überlegte noch eine Weile, ob ich dankend ablehnen sollte... aber so übernächtigt wie ich war, fehlte mir zum Glück die nötige Stärke... das Eis schmeckte wirklich verboten lecker – besonders nachts...



Hilfsbereitschaft
Ich hatte es mir gerade auf meinem Sitz bequem gemacht. Um meinen inneren Frieden nicht zu stören, bin ich der Frage, wieso mein Sitzplatzwunsch am Fenster bei der Buchung des Flugs nun so gar keine Beachtung fand, nicht weiter nachgegangen. Immerhin saß ich im Zentrum des Flugzeugs, wo ich noch nie saß (und wo ich auch nie mein Kreuzchen hingesetzt hätte). Über wirklich neue Erfahrungen entscheiden wohl immer andere. Gut. Statt meinen Gedanken nachzuhängen bekam ich die etwas verzweifelte Familie neben mir mit: deutscher Mann, japanische Frau, 2 süße Kinder (mit braunen – nicht schwarzen Haaren, wen's interessiert) und die hatten zwei Plätze am Anfang und einen am Ende des Flugzeugs. Der Flugbegleiter entschuldigte sich mehrmals, aber konnte ihnen auch keine zusammenhängenden Plätze anbieten. Ich, immer noch im inneren Frieden, wollte ihnen meinen Platz zum Tausch anbieten (viel langweiliger als mein jetziger Platz konnte der andere ja auch nicht sein). Noch bevor ich mein Angebot aussprechen konnte, bekam ich die Nummer des nicht-sichtbaren 2.Platzes mit... Fensterplatz? … mein Herz klopfte ein wenig vor Vorfreude und ich mischte mich in die Konversation ein und bot an zu tauschen. Ja! Ein Fensterplatz mit freiem Platz neben mir! Die Familie war sehr dankbar.. und ich etwas beschämt wegen meiner Eigennützigkeit. Dabei bin ich mir ganz sicher: ich hätte auch getauscht, wenn es kein Fensterplatz gewesen wäre (aber vielleicht wäre ich zögerlicher im Anbieten gewesen). Und so war ich dankbar, dankbar, dankbar: Schweizer Berge im Winter bei Sonnenschein von oben - Grandios! Ich fühlte mich unendlich beschenkt und von guten Mächten auf dem Weg ins Unbekannte begleitet.



Gedankenlärm
Und dann der Flug, vor dem mir etwas graute. Ich bin ein Erdmensch, kein Luftmensch, egal wie toll der Service, wie wunderbar das Wetter, wie klar die Aussicht und wie interessant der Sitzplatznachbar ist. Nichts desto trotz: der Service war hervorragend (ich sage nur Schweizer Schoki...), es war klarster Himmel mit wunderbarstem Sonnenschein, die Crew äußerst angenehm – kurz ich bin gern eingestiegen und auch entspannt wieder ausgestiegen. Und das ist gar nicht so selbstverständlich! Meinem Mitbewohner hatte ich am Abend zuvor meine Flugangst und komischen Vorahnungen gebeichtet. Er meinte - bei einem komischen Gefühl sollte ich auf jeden Fall nicht in das Flugzeug einsteigen und am besten auch versuchen die Crew vom Fliegen abzuhalten. Instinkte und Vorahnungen sind meist richtig und es ist wichtig ihnen nachzugehen! - Er fügte aber auch hinzu, dass das Flugzeug das bei weitem sicherste Transportmittel sei und meine Vorahnungen wahrscheinlich nicht zutreffen (mal abgesehen von dem Unglück vorgestern in Malaysia, von dem ich bei der Gelegenheit erfuhr). - So ernst genommen zu werden in meinen Bedenken machte mich etwas sprachlos. Ich versuchte mir bildlich vorzustellen, wie ich mich weigerte in das Flugzeug einzusteigen: Ich - stur wie ein Esel vor der ersten Stufe stehend, die Crew in einer gekonnt-professionellen Mischung aus Mitgefühl und Manipulation auf mich einredend, die Passagiere genervt aus den Fenstern auf mich starrend... Das fiel mir sehr schwer zu glauben. Meine „gemischten Gefühle“ so ernst zu nehmen, dass ich 800 Euro so einfach in den Sand setzen würde, da würde ich mit meinem Selbstwertgefühl gern mal hinkommen. Den ganzen Flug dann noch zu stoppen.. Wow!... da muss ich echt überzeugt sein. Die Vorstellung fand ich abwechselnd absurd und faszinierend. Aber von meinem unzureichenden Selbstbewusstsein mal abgesehen... wie kann ich denn unterscheiden zwischen einer ängstlichen Vorstellung und wirklichem Bauchgefühl? Das konnte mir mein Mitbewohner auch nicht beantworten. Aber immerhin hatte ich einen Plan B und zumindest gab es eine Person, die mich verstehen würde, wenn ich mich weigern würde morgen in das Flugzeug zu steigen. Das beruhigte mich.
Als ich dann in der Schlange am Gate kurz vorm Einsteigen war, lauschte ich in mich hinein: Alles war ruhig, ich war entspannt und ich freute mich auf den Flug – zumindest auf den ersten kurzen Inlandsflug nach Zürich - und mir wurde dabei klar: eine ernst zu nehmende Vorahnung kann ich wenn, dann nur aus einer solchen Ruhe heraus wahrnehmen. Angst macht blind und taub habe ich letztlich in „Herzenhören“ gelesen. Bei all dem Gedankenlärm, den meine Ängstlichkeit und Nervosität normalerweise in solchen Situationen produzieren, ist es völlig unmöglich die wirklich wichtigen Signale von Fiktionen zu unterscheiden. Und vor dem zweiten langen Flug bemühte ich mich, keinerlei unbegründete Sorgen aufkommen zu lassen. Und auch hier hatte ich deutlich ein gutes Gefühl beim Einstieg. Soviel zur Not-wendigkeit von „Inner Peace“...



Begrenzte Glücksempfindungsfähigkeit
Die letzten Minuten am Flughafen wurden mir durch ein Picknick versüßt. Hach, was habe ich die letzten Wochen an glücklichen und schönen Momenten gehabt und immer, immer kam noch einer hinzu. „Ich kann nicht mehr“, dachte ich häufig. Die vielen intensiv-schönen „bevor-du-weggehst-nochmal-Treffen“ Begegnungen haben mir ins Bewusstsein gerufen, von welch spannenden und liebenswerten Menschen ich zu Hause umgeben bin und was ich alles hinter mir lasse, zumindest für eine Weile. Und nun wurde meine eh schon strapazierte Glücksempfindungsfähigkeit nochmals mit frischen Hasenbrötchen und leckerem Käse herausgefordert. Ach, was habe ich für tolle Freunde!



Abschiedslied
Montag morgen, auf dem Weg zum Flughafen gab es schönsten Sonnenschein und es duftete nach Frühling. Und während wir an der Bushaltestelle auf den TXL warteten, sah ich noch einen Vogel, konkreter einen Star: Fröhlich und unbeschwert trällerte er hoch oben auf einem dieser riesigen blauen Hinweisschilder über der Autobahn sitzend. Ob die Weibchen ihn wohl dort zwischen all dem Autogetös hören? Und wenn ja, würden sie sich daneben setzen? Würde er sie dann zu seinem Nest im Mittelstreifengebüsch oder unter die Leitplanke führen? Garantiert Fuchssicher.
Oder sang er etwa für mich? Ein Abschiedslied? Ein wenig wehmütig wurde mir beim Gedanken, diesen doch gerade zart erblühenden Frühling jetzt schon wieder zu verlassen. Aber immerhin, dann kann ich das Frühlingserwachen ein zweites Mal erleben und die Aussicht, die gemeinsame Freude darüber in den fremden Gesichtsausdrücken verschiedenster japanischer Menschen erleben zu dürfen, stimmte mich wieder vorfreudig.



Abenteuer Japan: Es geht los!
Endlich! Dank meiner wunderbaren Schwester ist alles Notwendige und wenig darüberhinaus in meinen Rucksack gelandet. Die grandiose Größe von maximal 45l half dabei, die Grenze des zulässigen Gewichts beim Flug von 23kg einzuhalten - wir waren trotzdem etwas besorgt, denn ich wollte im Zweifelsfall bei der Aussicht auf Schneesturm nix von meiner Woll(unter)wäsche wieder auspacken. Eine weise Vorahnung... wie sich später herausstellte.
Einige Bilder zeugen vom Chaos in meinem Zimmer. Ganz ehrlich, ich möchte nicht wissen, wie ich das Packen ohne meinen Personal-Pack-Coach geschafft hätte und ich meine wirklich wie, denn, dass ich es geschafft hätte, steht außer Frage. Und würde ich nicht ganz sicher wissen, dass allein der familiäre Bezug mir die Chance geben wird mich zu revanchieren (und dass, vielleicht schon ganz bald) – ich hätte soviel Unterstützung nur schwer annehmen können. Mein Zimmer blitzt und blinkt – selbst mein Wasserkocher wurde mit Scheuermilch solange massiert, bis er vor Dankbarkeit glänzte. Nur meine Fenster und der Boden hoffen noch immer auf Zuwendung.
Das Packen war aber auch echt eine Herausforderung: Eine Temperaturspanne von -3 bis 25 Grad und eine Aktivitätenspanne von Wandern in einsamer Natur, über Büroalltag, bis hin zur Dienstreise in halbwegs japan-konformer Kleidung wollte abgedeckt sein. Ich hab es mit dieser gedanklichen Herausforderung gemacht, wie mit all den anderen in der letzten Zeit: ich habe vermieden darüber nachzudenken. Das funktioniert erstaunlich gut, wobei ich mir noch nicht ganz sicher bin, ob es schieres Vorsich-hinschieben unangenehmer Tätigkeiten oder weise Vorraussicht war. Ich tendiere in letzter Zeit dahin, alles als letzteres einzustufen, weil sich das besser anfühlt und eh auf das gleiche hinausläuft. Nach und nach wurde mir aber eins klar: auf keinen Fall konnte ich darüber nachdenken, solange die Geschäfte noch auf hatten. Irgendwie ahnte ich schon, dass mein gut trainiertes und mittlerweile sehr breit gefächertes Vorstellungsvermögen in Lage ist, derart vielseitige Szenarien und die damit verbundenen Notwendigkeiten zu produzieren, dass ich mit einem halbwegs gut gefüllten Konto eine Lawine von To-Do-and-To-Buy-Listen-Einträgen lostreten konnte. Und ich wusste auch, ich kann genauso gut ohne all diese notwendigen Dinge in andere völlig unvorstellbare Situationen kommen. Davon abgesehen schien mir die Tatsache manche Not nicht abwenden zu können irgendwie abenteuerlicher und spannender. Aber gut. Wenn ich ganz ehrlich bin, ist mein Denkapparat gerade derart überlastet, dass ich lieber nicht versuchen wollte darüber nachzudenken. Ich musste die Auswahl an Einzupackendem zumindest reduzieren auf die Möglichkeiten, die sich bereits in meiner Wohnung befanden. Samstag abend war daher perfekt geeignet. Bei der Gelegenheit konnte ich gleich noch ein paar Neigen Selbstgebrauter Geschenke vernichten und lernte den Wert meines Personal-Pack-Coaches kennen: In den Ich-weiss-nicht-mehr-weiter-Momenten versüsste sie mir die notwendigen Pausen mit Tee & schönen Gesprächen bis es wieder weiterging: eine deutlich bessere Alternative zu Schokolade...