Mittwoch, 19. März 2014
Wohin reisen Sie?
Wäre ich jetzt ausgeruht und nicht so geistig abwesend gewesen... ich wäre ihnen wahrscheinlich ausgewichen, hätte es irgendwie gemieden, aber so steuerte ich direkt auf sie zu – oder vielmehr sie auf mich. Es sind wohl Bruchteile von Sekunden, in denen man jenseits aller Sprachtermini kommuniziert, ob man jetzt gerade Lust hat interviewt zu werden oder nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Lust hatte, aber meine verneinenden Signale waren auf jeden Fall deutlich zu schwach, um dieses spritzige Fernsehteam davon abzuhalten, mir das Mikro unter die Nase zu halten und Frontalaufnahmen von meiner übermüdeten Erscheinung zu machen. „Ohaio gozaimasu..“ - „Guten Tag!, dürfen wir.... für das japanische Fernsehen... wir interviewen Ankommende...Woher kommen Sie? Wohin reisen Sie?..“ Sie übersetzten ihre Fragen ins Englische und ich antwortete brav. „Aus Deutschland, Be-ru-ri-nu“ - „Ah... so-des-nee!“ Sind sie das erste mal in Japan? Ich verneine. „Wohin reisen Sie?“ Sie erwarteten vermutlich, dass ich nach Tokyo oder Kyoto reise. Ich sage, „ich weiss noch nicht, vielleicht Hokkaido“. Hokkaido ist die große Insel ganz im Norden, auf die sich der Normaltourist nicht hinverirrt. „Ah, Hokkaido.. so des nee!“ Warum gerade Hokkaido, wollen sie wissen. „Wegen der Natur!“, antworte ich. „Ich habe gehört, dass die Natur dort sehr schön sein soll“. Ich gebe zu, das war etwas provozierend. Als Normaltourist wollte ich nicht gelten. „Ah... so des ne!“ Sie mustern mein Gepäck. „Sieht sehr nach Backpacker aus...“, kommentieren sie. „Sind Sie Backpacker?“ Jetzt muss ich doch ausholen.. Ich erkläre ihnen, dass ich Wissenschaftlerin bin und drei Monate in Tohoku, der Nordregion, an einem Institut arbeiten werde. Ich ernte erstaunte Gesichter. Während meine Antwort ins japanische übersetzt wird, habe ich kurz Pause. Sollte ich ihnen von meiner Mission erzählen? Davon, dass ich vor 7 Jahren schonmal in Kyoto war und seitdem vom Japanvirus infiziert bin und nun auf der Suche bin nach dem Heilmittel und das gerne in unhomeöpathischer Dosis? Vielleicht weiss jemand der Zuschauer wo ich das Mittel finden kann, und meldet sich bei mir... träume ich vor mich hin. Ob sie das verstehen würden? Das Getuschele am anderen Ende des Mikros hat ein Ende.. Was für eine Wissenschaft wollen sie wissen? Biologie, antworte ich. „Ah... so des ne!“ Wieder Getuschele. Ich habe das Gefühl, sie sind auf der Suche nach irgendeinem spannenden Thema, dass unserem Gespräch etwas mehr Substanz verleihen könnte. Sie versuchen es mit der allseits umstrittenen Stammzellthematik und mich durchfährt ein resignierter Seufzer, der hoffentlich nicht von der Frontalkamera neben mir erfasst wurde. Ich weiss nicht, welches Thema ich mir erhofft hätte, aber sicherlich nicht dieses. Und auch nicht alle anderen, polarisierenden Themen, bei denen ich nur die Wahl habe, mich als Gegner oder Befürworter zu outen, ohne Gelegenheit, meine Position wirklich erklären zu können. Ich lächele freundlich und entschuldige mich.. „Dies ist leider nicht mein Spezialgebiet“ - und bin ausnahmsweise mal sehr dankbar dafür, dass es Spezialgebiete gibt, auf denen ich mich nicht auskennen muss. Sie versuchen es weiter... „Gestern abend in den Nachrichten gab es eine neue Entscheidung über...lalala...Stammzell..lalala.??? Haben Sie die gehört?... Was halten Sie davon?“ - So müssen sich Promis oft fühlen... nur weil sie einen Titel führen, oder auch nur das Titelblatt füllen, werden sie in jenster Sache nach ihrer Meinung befragt, ob sie dazu eine haben oder nicht. Ich höre keine Nachrichten, lese keine Zeitung. Ich faste Medien und das ist das einzige fasten, was ich seit Jahren gut durchhalte, weil es mich deutlich unbeschwerter leben lässt. Ob ich Ihnen dass sagen kann? Medien-fasten in einem Land wie Japan? Als Wissenschaftlerin? Ich gebe zu, es ist mir auch etwas unangenehm. Ich kann meist zu meiner Unwissenheit stehen, aber jetzt, in diesem fremden Land und vor laufender Kamera... Glücklicherweise fällt meinem unermüdlich logisch-arbeitenden Verstand eine Antwort ein. „Gestern abend... tut mir leid, da saß ich leider im Flieger, von einer Entscheidung habe ich nichts mitbekommen.“ Ich entschuldige mich nochmals für meine Uninformiertheit, und sie bedanken sich höflich für meine Antwort. Auf welchem Kanal sie auch senden mögen, sicher nicht auf meinem, und ich nicht auf ihrem, das spüren wir wohl auf beiden Seiten und das ist in Ordnung so. Wir bedanken uns nochmals und verabschieden uns und ich gehe weiter und versuche nicht darüber nachzudenken, ob ich diesen meinen Auftritt im japanischen Fernsehen jetzt gut fand oder nicht. Das war jetzt auch egal. Geld und Ticket - waren jetzt wichtig.



Gelandet – Gestrandet
Puhh. Endlich. Boden unter den Füßen. Mutter Erde, ich danke Dir. Und jetzt.. dem Strom folgen. Mein Rucksack war als erstes da. Gut, dann kann es ja jetzt losgehen. Ich trottete mit meinem Rucksack und Rollkoffer endlos lange Gänge entlang; dankbar über globale Standards, die das Ankommen auf fremden Boden durch vertraute Sprache und Symbolik doch sehr erleichtern und über die recht einfachen Entscheidungen, die mir zu diesem Zeitpunkt abverlangt wurden: Exit oder Weiterfliegen. Nein, ich will nicht weiterfliegen, ich will weiter Bahn fahren. Dafür brauche ich Geld und Tickets – das war die nächste Herausforderung, auf die ich mich innerlich vorbereitete. Geld abheben ist etwas schwierig. Irgendetwas ist mit den EC-Karten kaputt, man kann eigentlich nur an Flughäfen oder Postämtern Geld abheben, aber besser sind Flughäfen. Ich war müde und erschöpft. 16 Stunden war ich jetzt schon unterwegs. Wie ferngesteuert gehe ich zur Eingangshalle... Ticket und Geld, Ticket und Geld und dann kann ich erstmal wieder schlafen..hämmert es in meinem Kopf.
Ich gehe durch die Glastür, die die Ankommenden von den Wartenden trennt und schaue auf. Irgendwie ist es immer ein magischer Moment, dieses Durch-die-Glastür-kommen: Jetzt verlasse ich die global-vertraute Flughafenempfangswelt, die standardisierten Abläufe, die überschaubare Symbolik und die einfachen Entscheidungen. Hier beginnt die andere Welt, spätestens hier fängt die Exotik an. Ab hier sieht die Welt asiatisch, amerikanisch, thailändisch, europäisch oder was auch immer aus. Ab hier ist man den lokalen Gesetzmäßigkeiten einschließlich lokaler Kennzeichnungen ausgesetzt, ab hier ist man wieder selbstverantwortlich. Zig Augenpaare starren mich an, scannen mich für einen Bruchteil von Sekunden... aber nein, ich bin nicht die Person, auf die sie warteten. Schwupp, schon scannen sie die Person nach mir. Auch nicht? Na, dann schwupp, weiter. Gehe ich selbst? Werde ich nicht von ihrer fortwährend nach neuen zu scannenden Objekten drängenden Aufmerksamkeit einfach weiter geschoben? Und gehe ich nicht absichtlich etwas langsamer, um dieses wohlige Bad in Aufmerksamkeit noch etwas zu verlängern? Ist es vielleicht gerade wohlig, weil sie mir so gar nicht zugedacht ist diese Aufmerksamkeit, weil niemand wirklich etwas von mir will, außer mich zu scannen? Ich genoß den süßen Nachgeschmack dieses besonderen Momentes, der so frei von Erwartungen und voll von Geschenken ist, und wagte noch nicht recht nach vorn zu schauen. Die Situation hatte mich aus meiner zielgerichteten Geld-Ticket-Planung rausgeworfen und nun fühlte ich mich orientierungslos gestrandet in dieser fremden Welt. Ich versuchte mich innerlich wieder zu sortieren, während ich automatisch weiter in Richtung Empfangshalle ging.