Samstag, 22. März 2014
Jetzt geht’s los!
Sanft und gleichmäßig fuhr der Shinkansen, gut zum Schlafen, zumal mich Tokyos Vororte eh nicht sonderlich interessierten. Flachland habe ich zu Hause genug, ich wollte endlich Berge sehen! Sanft und gleichmäßig durchquerte er auch die Berge, tauchte ein in die malerisch winterliche Berglandschaft, von der ich bis auf ein paar kurze Momente, in denen ich meine Augen aufraffen konnte, leider nicht viel mitbekam, und glitt dahin bis zu seinem Endziel – der Küstenstadt Niigata. Eine Stunde Aufenthalt hatte ich hier, bis mich der nächste Zug endgültig an mein Reiseziel bringen würde. Als ich in Deutschland die Route ausgedruckt hatte, hatte ich geträumt von einem kleinen Café in der Küstenstadt, abseits der hektischen Metropole Tokio. Davon, Menschen und Möwen zu beobachten und langsam in diesem fremden Land anzukommen. Nun war ich da und die Zeit und vor allem meine Verfassung reichten weder zum Erkunden der Stadt, noch zum ernsthaften Verlassen des Bahnhofsgeländes, das zugleich ein mittelgroßes Einkaufszentrum war.
Ich trottete mit Rucksack und Rollkoffer den Gang entlang. Vorbei an kleinen Restaurants, einem westlich wirkenden, sehr vollen Starbucks-Verschnitt, einer japanischen Möchte-Gern-Croissanterie und dem Eingang zu einem größeren, Karstadt-ähnlichen Etablissement. Ich gebe zu, für einen kurzen Moment kam mir der Gedanke an Shopping, reizten mich all die neuen Dinge, die es zu entdecken gab, dann holte mich die Realität wieder ein, meine Müdigkeit, mein Gepäck,.. und ich beschloß vor die Tür zu gehen, um wenigstens kurz japanische Luft zu schmecken. Der Himmel war bedeckt und es war kühl draußen. Die Luft schmeckte nach Winter. Ein wenig schwermütig dachte ich an die Sonne und den gerade aufkeimenden Frühling, den ich hinter mir gelassen hatte. War ich enttäuscht, dass japanische Luft nicht anders schmeckte? Hatte ich das ernsthaft geglaubt? Mir wurde kalt und ich ging wieder zurück ins Einkaufszentrum. Ich wanderte den Gang wieder zurück. Mir war nach einem ruhigen Platz, an dem ich einfach nur eine Tasse grünen Tee trinken konnte. Ich ging an dem Starbucks-Verschnitt vorbei. Nein, dort wollte ich sicherlich nicht hin, obwohl es sehr einfach gewesen wäre. Die Einrichtung wirkte europäisch vertraut und die Leute sahen mit ihren Cafés recht zufrieden aus. Dennoch, mich reizten die kleinen japanischen Lokale – deshalb war ich doch hier, deshalb war ich doch um die halbe Welt gereist! Und ich wollte keinen Kaffee, ich wollte grünen Tee! Im Gegensatz zu Starbucks konnte man in die kleinen japanischen Restaurants nicht durch riesige Glasfenster hineinsehen. Selbst hier, im Einkaufszentrum, war der Innenraum durch hölzerne Schiebetüren Sicht- und Lärmgeschützt und blau-weiße Vorhänge, sogenannte Noren, bedeckten die obere Hälfte des Eingangs und signalisierten, dass das Restaurant offen ist. Ich wusste, dass man drinnen zum Essen umsonst grünen Tee dazu bekam – aber ob man auch nur Tee trinken konnte? Unschlüssig wanderte ich weiter den Gang entlang auf der Suche nach einer Alternative. Ich war der einzige Ausländer weit und breit und angesichts der niedlichen, kleinen Lädchen, den zierlichen Menschen und angesichts meines immer größer und schwerer werdenden Gepäcks kam ich mir zunehmend grob und tolpatschig vor, fühlte mich wie der Elefant im Porzellanladen. Ich wagte mich nirgends hinein, aber weiterlaufen wollte ich auch nicht. Ich blieb unschlüssig stehen, direkt vor dem Starbucks Verschnitt. Mit jedem Mal dass ich an ihm vorbei lief, schien dieser Laden mich unverschämter anzugrinsen und ich bildete mir ein, dass er und die Leute darin begannen sich allmählich lustig über mich zu machen, über meine Sturheit, über meine Unentschlossenheit. Ich musste an die geringelte Katze aus Alice im Wunderland denken, die gemütlich auf einem Ast sitzt und alles kommentiert... „Du könntest es so einfach haben...“ Ich seufzte und schaute mich um. Überall fremde Menschen, fremde Zeichen. Mir wurde mulmig und das erste mal seit meinem Aufbruch begann ich zu zweifeln... Worauf hatte ich mich hier eigentlich eingelassen? Was mich hierher gebracht hatte, war die Erinnerung oder vielmehr die Erfahrung von seltsamer Vertrautheit, die ich erlebt habe in einem Zen-Tempel in Kyoto vor sieben Jahren. Zwischen dem Zen-Tempel in Kyoto und diesem Einkaufszentrum liegen gefühlt weit mehr als die 518km, die (laut GoogleMaps) diese beiden Orte voneinander trennt. Es liegen Welten dazwischen. Und es sind eben diese Welten, an die ich vorweg nicht denken wollte.. wird schon, dachte ich immer. Plötzlich hatte ich das Gefühl, jetzt geht es tatsächlich los... mein Japan-Abenteuer! Aber im Gegensatz zu der aufgeregt, neugierigen Stimmung den dieser Satz die male zuvor ausgelöst hat, zu all dem Stolz mit dem ich mein Vorhaben zu Hause meinen Freunden kundgetan hab und in der ich die Reise geplant hatte, fühlte ich mich nun etwas bange, einsam, verlassen, in dieser Fremde. Ich bin schon viel gereist, bilde ich mir zumindest ein, und nie war mir derart bange, dieses Gefühl ist irgendwie neu. Vielleicht ist das der Moment, wo ein wirkliches Abenteuer beginnt und worin sich die Erfahrung von der Träumerei unterscheidet. Ich belächelte kurz meine Naivität und meinen unermüdlich Zukunftspläne schmiedenden Kopf, lächelte über die vielen Seifenblasen und Luftschlösser, die virtuellen Abenteuer in meinem Kopf ohne jemals einen Fuß vor die Tür gesetzt zu haben. Nein, dass hier ist nicht virtuell - das waren die Erfahrungen, die ich gesucht habe - Jetzt geht es tatsächlich los!
Mein Verstand schaltete sich wieder ein: Ich hatte noch knapp 40 min. Wenn ich mich jetzt nicht entschloss irgendwo einzukehren, reicht die Zeit nicht mehr aus. Ich drehte mich um und ging zurück zu dem kleinen japanischen Restaurant am Anfang des Ganges, zögerte noch einmal kurz und schob dann die Schiebetür auf und nahm den mir zugewiesenen Platz ein. Ein kurzer Blick auf die Karte... Misosuppe geht immer. Also dann Misosuppe...äh und Reis, bitte! Beides Wörter die so banal sind, dass sie selbst die nicht-englisch sprechende Bedienung versteht. Es waren sicherlich nicht die Delikatessen in diesem Laden, aber ich hatte einfach keine Kraft mehr für Kommunikationsexperimente und auch nicht für Entscheidungen. Die Bedienung schaute mich ungläubig an. Hatte sie richtig verstanden? Sie redete kurz mit ihrer Kollegin. Ich überlegte, ob an meiner sehr klaren Bestellung irgendetwas Missverständliches sein konnte – aber egal was sie verstanden hatte, ich würde es essen, nur bitte, bitte nicht nochmal nachfragen... Sie kehrte mit einem laminierten Menü mit Bildchen zurück und zeigte auf Misosuppe und Reis, um sicher zu gehen, dass sie wirklich richtig verstanden hatte. Ich lächelte sie an und nickte ihr versichernd zu. Sie brachte mir grünen Tee und ich bedankte mich und habe mich selten aufrichtiger gefühlt als in diesem Moment: ich saß und vor mir dampfte grüner Tee! Endlich! Beim Essen wurde mir dann die Ungläubigkeit der Bedienung sehr schnell nachvollziehbar, aber das war mir egal. Zwei Dinge wusste ich sicher: um eine weitere Nahrungsaufnahme brauchte ich mich heute nicht zu sorgen und dies war auf jeden Fall das erste und letzte mal, dass ich in Japan eine derart große Portion trockenen Reis bestellt habe.



Die großen Enten von Japan
Geld und Ticket – ich bekam beides, wenn auch mit einigen Komplikationen. Wie angekündigt zierte sich der Automat mir Geld zu geben - ich habe es irgendwann einfach hingenommen - Probleme kann ich lösen, wenn ich ausgeruht bin, also frühestens morgen - und bin zur Wechselstube, um mein restliches Bargeld umzutauschen. Noch 8 min bis der Zug fährt. Einer von mehreren möglichen Zügen, aber für diesen hatte ich schon eine ausgedruckte Verbindung. Ich folgte also brav dem Zeichen „JR“ - Japanese Railways. Im Untergrund angekommen, sehe ich sofort drei freie Automaten. Menschliche Hilfe wäre lieber, dachte ich. Meine Augen suchten hoffnungsvoll einen Schalter. Aber ein kurzer Blick auf die Warteschlange genügte, um meine Hemmungen mit dem Automaten zu kommunizieren zu überwinden. Zu meiner Überraschung kannte er die Kleinstadt in den Bergen. Etwas skeptisch über die mir unerklärlichen Preisunterschiede auf meinem Ausdruck und auf dem Display des Automaten, versuchte ich es dreimal - immer mit dem gleichen Ergebnis. Muss ich Sitzplätze reservieren? Montag morgen? Wohl kaum. Ich riskierte es. Irgendetwas wird er mir schon ausspucken und wenn es verkehrt war – mein Gott – ich bin Ausländer, ich darf auch ein falsches Ticket haben, Hauptsache ich habe überhaupt eines. Drei kleine Zettelchen spuckte er aus, nicht viel größer als Berliner Bustickets und dass für meine fast hundert Euro! Aber die Gleisautomaten liessen mich passieren und nun hatte ich noch 20min, um Luft zu holen und endlich anzukommen, denn den Zug hatte ich gerade verpasst.
Der nächste Zug – ein Expresszug – durfte ich den nehmen? Egal, ich saß endlich in einem Zug. Die Durchsage war auch auf englisch – „Wellcome …bla bla bla...this train is ... reserved seats only“.. Ich wünschte sie wäre nur auf japanisch gewesen. Okay, vielleicht hätte ich doch eine Reservierung nehmen sollen oder besser müssen? Ich wanderte im Zug umher auf der Suche nach einem Schaffner... keiner da. Mit ihren weißen Uniformen, weissen Hüten und weissen Handschuhen waren sie hübsch anzusehen, wie sie draußen eifrig die Kelle schwangen. Ich setzte mich wieder hin, aber ich saß unruhig und nervös. So nervös kenne ich mich sonst nicht, dass muss der Jetlag sein, versuchte ich mich zu rechtfertigen. Ich versuchte etwas zu schlafen. Es gelang mir tatsächlich. Den Expresszuschlag hatte ich vergessen, erfuhr ich kurze Zeit später von dem freundlichen Schaffner, der mich geweckt hatte. Aber das war genauso wenig dramatisch, wie die fehlende Reservierung. Den konnte ich ganz einfach nachbezahlen. Jetzt war mir der Preisunterschied klar.

Tokio! Endlich! Aufgeregt schaute ich aus dem Fenster: Häuser, Häuser, Häuser, häßliche Häuser, Betonburgen, Wellblechhäuser, riesige Werbetafeln...meine Begeisterung ebbte allmählich ab. Ach..., Tokio vielleicht doch eher ein anderes Mal. Für meine momentane Verfassung war Tokio gerade einfach zu groß, zu laut, zuviel. Ich beschloß schnellstmöglich weiter zu fahren. Am Bahnhof angekommen, versicherte ich mich am Schalter, dass mein Ticket ausreicht für den nächsten Zug: ein Shinkansen! Ein tolles Wort. Es bedeutet übersetzt „neue Stammstrecke“ und ist eigentlich die Bezeichnung des Streckennetzes, dass eigens für die Schnellzüge gebaut wurde. Da der Nah- und Güterverkehr ein anderes Netz benutzt, sind sie weltweit unübertroffen pünktlich. Sie sind ein Aushängeschild Japans und dementsprechend gibt es auch hier einen Hype um diese Züge, alle haben Namen und werden bejubelt. Ich wollte damit nur von A nach B kommen und ging zu meinem Gleis. Noch 12min bis zur Abfahrt. Auf dem Gleis waren rote und grüne Markierungen auf dem Boden aufgemalt, die das Anstellen organisierten und immer da endeten, wo sich vermutlich in Kürze eine Tür befinden würde. Und tatsächlich reihten sich die Japaner ganz brav dort ein. Rote Spur und grüne Spur.. 1. und 2. Klasse vielleicht? Ich ging ganz an den Anfang des Gleises und orientierte mich beim Einreihen an der Mehrheit, die auf grün stand. Ich blickte mich um. Am gegenüberliegenden Gleis fuhr gerade ein Zug ein. Wow! Ich gebe zu, soetwas habe ich noch nicht gesehen und plötzlich konnte ich den Hype der Japaner (und vieler Nicht-Japaner) durchaus verstehen. Neben mir hielt ein Hayabusa-Shinkansen, der „Wanderfalke“. Wie mein Shinkansen, ist er im Norden Japans unterwegs, zum Teil mit 320km. Japan ist generell sehr bergig und es gibt viele, viele Tunnel, vergleichbar mit der Schweiz. Um den Tunnelknall, d.h. das Aufprallen auf die im Tunnel nicht nach rechts- und links-ausweichen-könnenden Luftmassen zu minimieren haben die Shinkansen alle eine langgezogene Nase, was aussieht wie ein Entenschnabel. Der grüne Hayabusa hat einen besonders langen Schnabel und sieht daher recht beeindruckend und witzig aus. Mein Shinkansen, der kurz darauf einfährt ist weiss mit einem gelben Streifen an der Seite und einer nicht ganz so langen Nase. Während der Zug innen noch gereinigt wird, beobachtete ich, wie eine Mutter mit ihrem etwa 5jährigen Sohn den Schnabel meines Shinkansen tätschelt und … Fotos macht. Ich überlegte kurz, ob ich mich dazu geselle und meinem Gefährt auch eine solche Anerkennung zukommen lassen sollte, aber angesichts der Menschenmenge hinter mir wagte ich es nicht, meine grüne Markierung zu verlassen, denn sie führte zu dem Türchen von einem der zwei Waggons mit Non-reserved Plätzen im Zug. Ich erfreute mich also aus der Ferne an der kindlichen Vorfreude des Jungen und genoß es, nichts fotografisch festhalten zu müssen - ich war mir sicher, im Internet wimmelt es von Fotos dieser großen Enten. Und tatsächlich...

Shinkansen im Nordosten Japans
"Mein Shinkansen" - Joetsu